Politik
Ein 89-jähriger Zeitzeuge erinnert sich an die Schrecken des Krieges und sieht erschreckende Parallelen zu den heutigen Ereignissen. In einem Gastbeitrag schildert Meinrad Müller, wie der Tod in den Straßen seiner Kindheit allgegenwärtig war und wie heute eine andere Art von Angst die Gesellschaft erfasst hat.
„Was ich heute sehe, macht mir Angst“, beginnt der Autor. Als Neunjähriger erlebte er das Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Zeit, in der die Gewalt im Luftschutzkeller und in den Nachbarschaften spürbar war. Die Reden aus dem Volksempfänger waren für ihn unverständlich, doch die Veränderung der Menschen war nicht zu übersehen: Nachbarn grüßten sich nicht mehr, Erwachsene flüsterten oder schwiegen, sobald Fremde den Raum betraten.
Heute lebt Meinrad Müller in einem Altersheim und fühlt sich von einer stummen Angst umgeben. Die Stille der Räume wird durch den Fernseher übertönt, während die Bewohner vorsichtig mit ihren Gedanken umgehen. „Wir alten Menschen lesen noch die Zeitung – meist zuerst die Todesanzeigen“, schreibt er, „denn wir rechnen in Gedanken, wann wir selbst an der Reihe sind.“
Die Erinnerungen an die Vergangenheit verbindet er mit der Gegenwart. Damals war es gefährlich, über das Leid zu sprechen; heute seien die Worte wieder scharf wie Splitter. Die Sprache der Politiker und Medien wirke bedrohlich: „Man muss die Demokratie verteidigen gegen Andersdenkende“, hört er in den Nachrichten. Dieser Ton sei nicht anders als damals, als man das Volk „reinhalten“ musste und jenen „keinen Raum lassen“ durfte, die zu viel fragten.
Im Altersheim bemerkt der Autor, wie auch hier die Stille erdrückend wird. Sätze wie „Sagen Sie das lieber nicht so laut“ oder „Die Pflegerinnen sind alle auf Linie“ zeigen ihm, dass sich die Muster der Vergangenheit wiederholen. Die Angestellten, die ihn pflegen, scheinen in einer Routine gefangen zu sein – eine Routine, an die er bereits vor achtzig Jahren gewöhnt war.
Das Schlimmste für den Autor ist nicht die Lautstärke der Überzeugten, sondern das stille Einverständnis der Angepassten. „Viele marschieren nicht aus Überzeugung, sondern weil sie glauben, es sei sicherer so“, schreibt er. Die Angst, auffallen zu können, führt dazu, dass niemand bemerkt, wie sehr die Gesellschaft sich von ihrer menschlichen Grundlage entfernt hat.
Auch die Jugend verunsichert ihn. „Manchmal höre ich ihre Gespräche und erschrecke“, schreibt er über seine Kinder und Enkel. Sie empören sich für das „Richtige“ und kämpfen mit Waffen, ohne Verständnis für andere Meinungen zu zeigen. Doch der Autor bleibt still – nicht aus Feigheit, sondern um keine Distanz zu seinen Liebsten zu schaffen.
In seiner Botschaft warnt er: „Seid wachsam.“ Die Stimme der Vergangenheit sei leise geworden, doch sie müsse gehört werden, um den Rückfall in die Diktatur zu verhindern.